Blog-Archiv Oktober 2007

31.10.2007: Comeback der Inflation

29.10.2007: Linkes Manifest für eine gerechte Arbeitswelt

27.10.2007: Moses Müntefering

26.10.2007: Linksschwenk der SPD

20.10.2007: Dauerbaustelle Sozialpolitik

13.10.2007: Lobby des Ostens

10.10.2007: Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes

3.10.2007: Die Mission eines Staates

 

 

31.10.2007: Die Inflation ist wieder ein Thema an den Kapitalmärkten. Welche Auswirkungen hätte eine spürbare Inflationsbeschleunigung auf die wackeligen Kredite der Häuslebauer in den USA? Grundsätzlich trifft die Inflation die Hypothekenschuldner an drei Stellen: beim Einkommen, bei den Zinsen und bei den Hauspreisen. Bei einer Inflationsbeschleunigung von fünf Prozentpunkten werden mit einer gewissen Verzögerung auch die Einkommen in vergleichbarem Ausmaß zunehmen. Wer eine Hypothek mit variabler Verzinsung hat, der muß sich auf einen um fünf Prozentpunkte gestiegenen Hypothekenzins einstellen. Wenn die Restschuld seinem Jahreseinkommen entspricht oder darunter liegt, hat der Schuldner kein Problem: Bei einem Einkommen von 100.000 Dollar im Jahr und einer Restschuld in gleicher Höhe zahlt er dann 5.000 Dollar mehr Zinsen aus einem um 5.000 Euro gestiegenen Gehalt. Die meisten Schuldner sind aber am Anfang der Kreditbeziehung mit mehreren Jahreseinkommen verschuldet. Ist der Schuldner aus unserem Beispiel mit 300.000 Dollar verschuldet, so ergibt sich für ihn eine Nettobelastung aus der Inflationsbeschleunigung von 10.000 Dollar im Jahr.
Wie die Sache für den Schuldner ausgeht, hängt von seinen Reserven, seiner finanziellen Disziplin und vom Verhalten des Kreditgebers ab. In einem Umfeld mit fallenden realen Hauspreisen kann ein Inflationsschub empfindliche Kreditnehmer mit variabel verzinslichen Hypotheken reihenweise in die Zwangsvollstreckung treiben. Im Falle einer heftigen Stagflation können die negativen Folgen der Hypothekenkrise in den USA ungeahnte Dimensionen annehmen. In einem solchen Umfeld könnten 90 Prozent der subprime-Darlehen mit variabler Verzinsung notleidend werden.
Hat die Fed hat mit ihrer Leitzinssenkung nicht versucht, den Brand mit Benzin zu löschen? Wenn die Inflation außer Kontrolle gerät, nimmt die Reinigungskrise am Hypothekenmarkt unweigerlich ihren Lauf. Sie könnte dann sogar noch viel heftiger ausfallen.

 

29.10.2007: Nico Fickinger berichtet unter dem Titel “Linkes Manifest: Lafontaine will Lohnsenkung verbieten über das „Manifest für eine gerechte Arbeitswelt“ der Linkspartei:

  • Die Linkspartei will Lohnsenkungen gesetzlich verbieten. Eine Genehmigung sollen Bund, Länder oder Gemeinden nur bei „zwingender ökonomischer Notwendigkeit“ erteilen, die ein Wirtschaftsprüfer attestiert haben muß.
  • Der gesetzliche Mindestlohn soll bei 8,44 Euro pro Stunde liegen.
  • Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz soll auf alle Branchen ausgedehnt werden.
  • Bereits privatisierte Unternehmen sollen wieder in öffentliches Eigentum überführt werden.
  • Außerdem fordert das Manifest die Begrenzung der regelmäßigen Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden, die Einführung einer Ausbildungsumlage und ein Vetorecht für Betriebsräte bei Übernahmen und Fusionen.
  • Die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I soll verlängert werden.
  • Das Arbeitslosengeld II soll auf 435 Euro im Monat angehoben werden.
  • Zeitarbeiter und Stammpersonal sollen gleich viel verdienen und die Überlassungsdauer auf sechs Monate begrenzt werden.
  • Die sozialversicherungsfreien Mini-Jobs sollen abgeschafft werden.
  • Der Kündigungsschutz soll auf Kleinbetriebe ausgeweitet werden.

Ein allerdings interventionistisches Programm, das viele Fragen offen läßt. Was ist eine “zwingende ökonomische Notwendigkeit” in Zeiten globalisierter Kapitalmärkte? Eine Re-Privatisierung bereits veräußerter kommunaler Vermögenswerte kann nicht durch Bundesgesetz erzwungen werden. Konflikte mit der Selbstverwaltungsgarantie und dem Eigentumsgrundrecht sind hier offensichtlich. Es kommt hinzu, daß der Staat nicht als Unternehmer auftreten sollte. Man kann nicht zugleich Schiedsrichter und Spieler sein. Anschauungsmaterial zu den Risiken unternehmerischer Aktivitäten des Staates bietet die Rolle der öffentlichen Banken in der Hypothekenkrise.

Das Programm läuft darauf hinaus, den gut bezahlten sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsplatz zur einzig zulässigen Form von Arbeit zu erklären. Wir hätten dann zwar nur “gute Arbeit”, aber zu wenig davon. Hinter dem Manifest steht ein Denken, das dem Staat alles zutraut, der freien Entscheidung der Individuen und der spontanen Koordination durch Märkte aber so gut wie gar nichts.

 

27.10.2007: Aus Gerhard Schröders Rede zum Gedenken an Willy Brandt vom 15.10.2007: “Die Agenda 2010 sind nicht die Zehn Gebote, und niemand, der daran mitgearbeitet hat, sollte sich als Moses begreifen. Er ist es nicht! Aber - und das ist doch genauso klar - die Balance, die wir in dieser Agenda gefunden haben zwischen Fordern auf der einen Seite und Fördern auf der anderen Seite, die darf nicht preisgegeben werden.”

Durch verlängerte ALG I-Bezugszeiten wird diese Balance aber zugunsten des Förderns verändert, wenn auch noch nicht “preisgegeben”.

Auszüge aus der Rede Gerhard Schröders auf dem SPD-Parteitag: “Die Agenda 2010 ist Instrument, nicht Ziel. Also ist sie veränderbar. Das Bessere ist des Guten Feind. Aber eben das Bessere, nicht das Populärere. ... Die Partei wird und muß dem Vorsitzenden Beck ein hohes Maß an Loyalität entgegenbringen.”

 

26.10.2007: Wulf Schmiese hat in der F.A.Z. von heute unter der Überschrift “Merkels Chance: Beck” den von Kurt Beck initiierten Schwenk der SPD nach links kommentiert. Der SPD-Vorsitzende ist dabei, die (neue) Mitte für Frau Merkel freizumachen. Die reformbejahenden Wählerschichten, die Schröder und Steinbrück an die Partei gebunden haben, sind auf dem besten Wege, sich wieder von der SPD abzuwenden. Die SPD scheint jetzt in eine direkte Konkurrenzbeziehung mit den anderen beiden Linksparteien eintreten zu wollen. Auf der Linken wird es dann aber eng. Den Wettlauf mit der Linkspartei kann die SPD nicht gewinnen. Jedesmal, wenn die SPD eine Position nach links verschiebt, wird die Linkspartei noch radikalere Forderungen stellen. Auch wenn die Linkspartei damit irgendwann an Grenzen stößt, gilt doch: Links außen ist die Linkspartei das Original. Die können dann sagen, daß sie immer schon die richtigen Positionen vertreten haben.

Hat die SPD-Führung die Option, den Kurs der Schröderschen Reformen zu halten erwogen? Wenn man dort stehengeblieben wäre, wo Schröder aufgehört hatte, stünde man jetzt “rechts” von Teilen der CDU. Wäre das ein unnatürlicher Zustand? Warum tritt die SPD nicht mit dem Anspruch auf, die erfolgreichere Wirtschafts- und Sozialpolitik zu machen? Warum läßt sie sich nicht am Wirtschaftswachstum und an den neu geschaffenen Arbeitsplätzen messen? Warum läßt sie die CDU nicht einfach links liegen? Die CDU ist keine Reformpartei und sie hat kein Personal mehr, das für Kompetenz in der Wirtschaftspolitik steht.

Fatal für die SPD ist außerdem, daß die Koalitionsoption FDP nun immer unwahrscheinlicher wird. Und mit der Linkspartei will man ja nicht gehen. Kurt Beck rückt die Partei inhaltlich nach links und wehrt sich zugleich vehement gegen Koalitionen mit der Linkspartei. Das paßt nicht zusammen.

Nachtrag zur Rolle Schröders in der SPD: Erst hat er die Hartz-Reformen “durchgepeitscht” und damit die Linkspartei erst stark gemacht. Nun sät er Zweifel am Sinn der Reformen und unterstellt Müntefering, er halte sich für Moses. Das soll wohl heißen: Das alles ist eigentlich gar nicht so wichtig. Moses mag hartnäckig gewesen sein, doch sein Name steht vor allem für Treue und Geradlinigkeit.

Die Begründung der Hartz-Reformen bleibt gültig. Es ging darum, die sozialen Sicherungssysteme wetterfest zu machen und die Leistungen enger an die Beschäftigung zu koppeln. Eine Verlängerung der Bezugszeiten beim ALG I widerspräche dem Geist der Reformen. Das ist keine Nebensächlichkeit, wie die Befürworter verlängerter Bezugszeiten uns Glauben machen wollen. Dieser Schritt hat eine symbolische Bedeutung.
Auf der anderen Seite soll bei den ALG II-Regelsätzen offenbar alles beim alten bleiben. Dort geht es aber um die Linderung größter materieller Armut, unter der in erster Linie die Kinder von Langzeitarbeitslosen ohne Zusatzverdienst zu leiden haben. Ottmar Schreiner hat ganz recht, wenn er eine Erhöhung der Regelsätze für die Kinder fordert. Wenn man eine solche Leistungsanpassung mit etwas mehr “Fordern”  verbinden könnte, wären die Arbeitsmarkt- und die Sozialpolitik einen Schritt vorangekommen. Die isolierte Verlängerung der ALG I-Bezugszeiten ist dagegen Klientelpolitik. Empfinden die ALG II-Empfänger das als gerecht? Wird dadurch das Zwei-Klassensystem unter den Arbeitslosen nicht verschärft? Treibt man die Langzeitarbeitslosen so nicht in die Arme der Linkspartei?

 

20.10.2007: Die Sozialpolitik wird zur Dauerbaustelle. Nach den Hartz-Reformen folgt jetzt eine Welle von Eingriffen, Reformen, neuen Transfers und Regulierungen: Mindestlohn, Kombilohn, Kinderzuschlag, ALG I-Bezugszeiten, usw. Dabei sind schon die vorhandenen Leistungssysteme nur höchst mangelhaft aufeinander abgestimmt - ich denke da an das Verhältnis von Wohngeld und ALG II. Was jetzt in der Pipeline ist, sieht wie Flickwerk aus. Wie wäre es mit Konsolidierung und Vereinfachung? Das System ist bereits jetzt so komplex, daß es auch für Berufspolitiker im Hinblick auf das Zusammenspiel der Instrumente und die Auswirkungen auf sozialpolitische Indikatoren nahezu undurchschaubar geworden ist. Es ist offensichtlich, daß das ALG II als bedarfsorientierte Grundsicherung, die die individuellen Einkommens- und Vermögensverhältnisse ebenso berücksichtigt wie den individuellen Bedarf, das Zentrum unseres Systems der sozialen Sicherung ist. Das ALG II ist der Mindestlohn, es ist der Kombilohn und es ist der Kinderzuschlag. Instrumentelle Reformen in diesen Bereichen sollten nicht neben dem ALG II, sondern innerhalb dieses Transfers ansetzen. Andernfalls drohen Abstimmungsprobleme, unerwünschte Nebenwirkungen und Zielverfehlungen. Das gesamte System kann nur dann schlanker und effizienter gemacht werden, wenn das ALG II auf der Leistungsseite verbessert und sein Anwendungsbereich erweitert wird. Eine nachhaltige Sozialpolitik kann nur beim ALG II ansetzen.

 

13.10.2007: Hat der Osten noch eine politische Lobby? Welche Politiker setzen sich  für die Interessen des Ostens ein?
Viele Gesetzgebungsvorhaben im Bereich der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik begünstigen oder belasten den Osten im Vergleich zum Westen. Ein Beispiel: Der SPD-interne Konflikt um die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes (siehe unten) - ein Westthema. Aus ostdeutscher Sicht ist das die falsche Baustelle.
Wer prüft die Gesetzgebungsvorhaben systematisch daraufhin, ob sie wirtschaftliche oder finanzielle Interessen der ostdeutschen Länder beeinträchtigen? Wer fordert Korrekturen oder entwirft Gegenmodelle?
 

10.10.2007: Der SPD-interne Konflikt um die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes (I) berührt einen zentralen Punkt unseres sozialen Sicherungssystems. Die Forderungen des SPD-Vorsitzenden sind allerdings populär. Natürlich fühlen die Menschen sich sicherer, wenn sie im Falle von Arbeitslosigkeit eine längere Bezugsperiode mit dem einkommensabhängigen Arbeitslosengeld erwarten können.
Dies ist allerdings eher ein Problem westdeutscher Arbeitnehmer, weil im Osten das ALG I aufgrund des niedrigeren Lohnniveaus meistens deutlich niedriger ausfällt. Unter den ostdeutschen Verhältnissen ist die Armutsbekämpfung durch Leistungsverbesserungen beim ALG II wegen der viel größeren Zahl der Empfänger die weitaus wichtigere Frage.
Außerdem ist die mit der Verlängerung der ALG I-Bezugsdauer angestrebte Sicherheit für die Arbeitnehmer trügerisch. Die Chancen auf Wiedervermittlung sind bekanntlich um so geringer, je länger die Arbeitslosigkeit schon andauert. Was erreicht man also mit den vorgeschlagenen Regelungen? Viele Empfänger werden nur den Vorteil davon haben, daß der „Absturz“ ins ALG II ein paar Monate später erfolgt. Das ist aber keine sinnvolle Aufgabenstellung für die gesetzliche Arbeitslosenversicherung.
Es kommt hinzu, daß die nach dem Lebensalter gestaffelte Bezugsdauer Fehlanreize setzt. Sie fördert die Frühverrentung und mindert den Druck zur Arbeitssuche in einer für den Arbeitsmarkt kritischen Altersgruppe. Auf der anderen Seite darf man das Sicherheitsbedürfnis der Menschen nicht einfach ignorieren. Die Diskussion sollte daher grundsätzlicher geführt werden. Dabei ist der Zusammenhang zwischen den beiden Transfersystemen zu beachten: Wenn das ALG II besser dotiert wäre, wäre die Bezugsdauer des ALG I gar keine so entscheidende Frage mehr.
Man könnte auch ganz radikal die Frage stellen, ob ein zweistufiges Sicherungssystem gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit überhaupt notwendig ist. Hier lohnt ein Blick auf das britische System der sozialen Sicherung, das in mancherlei Hinsicht als Vorlage für die Hartz-Reformen gedient hat. Unserer gesetzlichen Arbeitslosenversicherung entspricht dort die „Contributory Jobseeker’s Allowance“. Diese ist nicht einkommensabhängig (also für alle gleich hoch) und wird nur für sechs Monate gewährt. Außerdem ist das Leistungsniveau nach unseren Maßstäben bescheiden. Als Auffanglinie dient die „Income-based Jobseeker’s Allowance“ (JSA), die unserem ALG II sehr ähnlich ist. Sowohl unser ALG II als auch die Income-based Jobseeker’s Allowance ist „means tested“. Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse werden bei der Bemessung des jeweiligen Leistungsniveaus also berücksichtigt. Beide Transfers sind damit in dem Sinne effizient, daß nur im Falle von nachgewiesener Bedürftigkeit geleistet wird und dann auch nur, wenn die eigenen Ressourcen abgesehen vom Schonvermögen nicht zur Selbsthilfe ausreichen.
Für unsere Verhältnisse ist das britische System hart. Als unmittelbare Folge des Eintritts von Arbeitslosigkeit geht das Einkommen in der Regel viel stärker zurück als bei uns. Diese Härten werden  aber von der größeren Flexibilität der britischen Arbeitsmarktregulierungen abgefedert. Die durchschittliche Verweildauer in der Arbeitslosigkeit ist deutlich kürzer als unter den deutschen Verhältnissen.
Das britische System setzt stärker auf den Anreiz zur privaten Vorsorge durch Ersparnisse und im Bereich der Eigenheimfinanzierung durch „Mortgage Payment Protection Insurance“ (MPPI) - ein in Großbritannien weit verbreiteter Versicherungszweig. Die Contributory JSA (das „britische ALG I“) ist für die Absicherung der Menschen letzten Endes so unbedeutend, daß man die staatliche Absicherung gegen Arbeitslosigkeit auch alleine der einkommensabhängigen JSA überlassen könnte. An der Einkommenssituation der Betroffenen würde dieser Schritt effektiv nicht viel ändern.
Eine solche Lösung könnte man auch für Deutschland erwägen. Wir könnten die Leistungen des ALG II an kritischen Punkten (z.B. Regelsatz für die Kinder, Unterkunftskostenregelungen) deutlich verbessern und im Gegenzug den Einkommensbezug beim Arbeitslosengeld (I) lockern (d.h. gemessen am letzten Nettoeinkommen prozentual weniger Leistung für Besserverdienende). Damit würde bereits zu Beginn der Arbeitslosigkeit - wenn es den größten Erfolg verspricht - für mehr Druck gesorgt, sich um Arbeit zu bemühen.
Die Absicherung gegen das Risiko anhaltender Arbeitslosigkeit würde mehr als bislang auch zum privaten Problem. Je nach ihrer individuellen Risikoeinstellung würden die Menschen zusätzliche Ersparnisse bilden oder privaten Versicherungsschutz (zusätzlich zur erwarteten öffentlichen Unterstützung) nehmen. Ähnlich wie die private Zusatzversicherung gegen bestimmte Gesundheitsrisiken würde die private Versicherung gegen Arbeitslosigkeit die vom Staat bereitgestellte Grundleistung also lediglich ergänzen. Ist das unsozial?
Arbeitnehmer mit niedrigem Einkommen würden bei Arbeitslosigkeit keine  Leistungseinbußen erleiden. Wer zuletzt ein sehr niedriges Einkommen bezogen hat, würde sogar von Anfang deutlich besser gestellt und zwar besonders dann, wenn mehrere Kinder im Haushalt leben. Die Besserverdienenden würden sich gemäß ihrer Risikopräferenzen zusätzlich privat absichern oder auch nicht – im Falle lang anhaltender Arbeitslosigkeit stünden sich alle Betroffenen wesentlich besser.
Die private Versicherung gegen Arbeitslosigkeit würde die Lücke zwischen dem Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitssuchende und dem individuell erwünschten Einkommensniveau schließen. Natürlich würden die Versicherer unterschiedliche Tarife im Hinblick auf das Leistungsniveau, die Bezugsdauer und die Wartezeit anbieten. Jeder könnte sich gemäß seiner eigenen Risikopräferenzen absichern. Außerdem würde dieses System optimale Anreize setzen, sich so aus- und weiterzubilden, daß die Chancen auf dem Arbeitsmarkt optimiert werden. Wer einen Beruf mit einem hohen Risiko der Arbeitslosigkeit ergreift, müßte freilich eine höhere Versicherungsprämie zahlen – aber dieser Lenkungseffekt ist gesamtwirtschaftlich sinnvoll. Wenn sie richtig organisiert ist, setzt die private Versicherung gegen Arbeitslosigkeit auf vielen Gebieten präventive Anreize zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit . Möglicherweise werden hier von der Versicherungswirtschaft auch „Schadensfreiheitsrabatte“ gewährt werden. Der Wettbewerb unter den Versicherern wird einen Lernprozeß auslösen, der zu einer ständigen Verbesserung des tariflichen Anreizsystems zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit führen wird.
Für den Vorschlag, das Leistungsniveau des ALG II in kritischen Punkten deutlich zu verbessern und das ALG I selektiv zu kürzen, sprechen zusammengefaßt folgende Argumente:

  • die Senkung der Beiträge zur gesetzlichen Versicherung gegen Arbeitslosigkeit.
  • die Effizienzvorteile, die sich aus der bedarfsgerechten Mittelverteilung, den verbesserten Anreizen zur Arbeitssuche und -aufnahme und den individuellen Wahlmöglichkeiten im Hinblick auf das Ausmaß des Versicherungsschutzes ergeben. Diese Effekte werden zu einer Entlastung der öffentlichen Haushalte führen.
  • der Beitrag zur Bekämpfung der Ursachen von Arbeitslosigkeit, der sich aus den verbesserten Bildungsanreizen und den Anreizen zur Meidung von Berufen mit einem besonders hohen Risiko der Arbeitslosigkeit ergibt (die dann auch besser bezahlt würden).
  • der Beitrag zur Bekämpfung der Armut von Langzeitarbeitslosen: Sie (und ihre Kinder) werden finanziell in die Lage versetzt, auf Dauer ein menschenwürdiges Leben zu führen.
  • die Verbesserung der Startchancen der Kinder von Langzeitarbeitslosen.

Wir können nicht gleichzeitig das ALG I und das ALG II aufstocken. Spätestens im nächsten konjunkturellen Abschwung wäre das nicht mehr finanzierbar. Wenn das aber so ist, dann hat das ALG II wegen seiner größeren Bedeutung für die gesellschaftliche Teilhabe benachteiligter Schichten Priorität.
Öffentliche Leistungen für Arbeitslose sollten die Anreize zur Arbeitssuche, zur Arbeitsaufnahme und zur Aus- und Weiterbildung möglichst wenig verzerren und den Betroffenen unabhängig von ihrer Verweildauer in der Arbeitslosigkeit ein menschenwürdiges Leben ermöglich. Beiden Anforderungen wird bereits das herrschende System nicht genügend gerecht. Die Verlängerung der Bezugsdauer der ALG I – in welcher Form auch immer – wäre ein Schritt in die falsche Richtung. Das Arbeitslosengeld II ist der Nukleus einer effizienten Sozialpolitik. Effiziente Sozialpolitik arbeitet nicht mit der Gießkanne, sondern prüft die Einkommens- und Vermögensverhältnisse und den individuellen Bedarf und stellt dann mit gezielten Transfers das gesellschaftlich erwünschte Mindesteinkommensniveau her (gleiches Leistungsniveau bei gleicher Bedürftigkeit, ansonsten gilt: Je höher der Bedarf, desto höher das Leistungsniveau und umgekehrt). Diese Ziele sollten wenn möglich mit nur einem einzigen Transfersystem verfolgt werden, das mit einheitlichen Begriffen und Leistungsgrundsätzen arbeitet. Damit kann die Ressourcenverschwendung, die sich aus dem Nebeneinander verschiedener Systeme der sozialen Sicherung ergibt, abgebaut werden. Bei größerer sozialer Treffsicherheit würden gleichzeitig die Verwaltungskosten minimiert. Die Weiterentwicklung des Systems der sozialen Sicherung sollte daher von einer schrittweisen Ausdehnung des zeitlichen und sachlichen Anwendungsbereiches des ALG II bestimmt sein.
Die hier geforderte spürbare und nachhaltige Erhöhung des ALG II würde allerdings zu einer weiteren Beeinträchtigung der Arbeitsanreize für Langzeitarbeitslose führen. Dem Prinzip des Forderns müßte dementsprechend mehr Geltung verschafft werden. Das darf aber nicht bedeuten, daß jede Arbeit für jeden zumutbar ist. Mit neuen Formen der Bürgerarbeit sollte die Verbindung von Teilhabe und Lebenssinn auf der Basis der individuell vorhandenen Qualifikationen und Interessen möglich sein.

 

3.10.2007: Ich frage mich, ob Staaten eine Mission haben müssen, um erfolgreich zu sein. Die USA haben sich als Mission die Befreiung und Demokratisierung der Welt auf die Fahnen geschrieben - und im Namen dieser Mission schwere Fehler gemacht. Das nachrevolutionäre Frankreich hatte eine ähnliche Mission und auch die junge Sowjetunion wäre hier zu nennen. Der weitere Verlauf dieser Missionierungsbemühungen ist hinlänglich bekannt.
In Deutschland war in den 70er Jahren mal vom “Modell Deutschland” die Rede. Konkret war da aber eher an Deutschland als Beispiel für effiziente Regierungskunst gedacht. Unter der Regierung Kohl hatte sich Deutschland die Vertiefung der europäischen Integration auf die Fahnen geschrieben, ohne daß dies übermäßige Begeisterung unter den Wählern hervorgerufen hätte.
Bei der Regierung Merkel scheint sich die Rettung des Weltklimas als zentrales Projekt herauszukristallisieren. Und dieses Projekt findet nach meinem Eindruck mehr Rückhalt in der Bevölkerung als (seinerzeit) die europäische Idee. Kann dies das deutsche Großprojekt des 21. Jahrhunderts werden? Deutschland als Modell für die ressourcen- und energieeffiziente Wirtschaft von übermorgen?
Die deutsche Einheit hatte eigentlich gar keine Mission - ihr Geburtsfehler. Die Freiheit hatten sich die Ostdeutschen bereits erkämpft und die staatliche Fusion war  aus Sicht der Ostdeutschen auch ökonomisch und nicht nur patriotisch motiviert. Es gab kein gemeinsames Projekt der beiden deutschen Staaten, das die Fusion hätte rechtfertigen können. Die DDR hat institutionell so gut wie nichts in den Vereinigungsprozeß einbringen können. Warum läßt sich eine Gesellschaft auf so etwas ein? Die Psychologie der deutschen Vereinigung war eine einzige Katastrophe. Müssen sich die Ostdeutschen nicht als Verlierer des historischen Wettlaufs der Systeme fühlen, denen nichts blieb, als sich dem Gewinner anzuschließen? Ostdeutschland kann nur wieder zu sich finden, wenn es sich vom Westen emanzipiert. Die einzige Chance dazu bietet der Föderalismus. Die Länder müssen auf vielen Gebieten und besonders in der Steuer-, Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zu wichtigeren Kompetenzträgern werden. Die sprichwörtliche Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse sollten wir nicht so wichtig nehmen. Der Osten muß jetzt seinen eigenen Weg gehen. Er muß sein eigenes Projekt und seinen Platz in der Welt finden. Wir werden unser Selbstbewußtsein und unseren Stolz erst wiederfinden, wenn wir einmal sagen können: Wir haben es aus eigener Kraft geschafft! Und wir haben es anders gemacht als die im Westen.

 

 

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